Produktivkräfte und Technischer Fortschritt
Franz Rieder • Produktivkraft – Theoretische Ansätze, neue Wachstumstheorien, die Erfindung des Geldes (nicht lektorierter Rohentwurf) (Last Update: 01.06.2019)
Die Technik, die man gemeinhin mit technischen Fortschritt in Verbindung bringt, ist allein deshalb schon mehr als sie ist. Nicht alles an Technik wird mit technischem Fortschritt assoziiert, aber wenn, dann trägt dieser technische Gegenstand schon eine Bedeutung, die weit über ihn als Gegenstand hinausweist; ein Computer ist dann eben nicht einfach mehr ein Computer, ein Auto kein Auto und ein Haus kein Haus mehr. Es scheiden sich also irgendwo die Geister bzw. ein technischer Gegenstand bleibt ein seelenloses Ding, ein anderer bekommt wahre Wirkkräfte.
Laut Duden ist ein Fetisch ein Gegenstand, dem man magische Kräfte zuschreibt. Ein Fetisch kann im psychologischen Sinne jemanden in sexuelle Erregung versetzen und im religiösen Sinn den Glauben an übernatürliche, persönliche oder unpersönliche Mächte bezeichnen, die in bestimmten Gegenständen wohnen und deren Verehrung als heilige Objekte nach sich ziehen; das sind ja schon eine ganze Menge an seltsamen Ungereimtheiten, aber lange noch nicht alle.
Marx
bemühte diesen eher animistischen Begriff des Fetischismus, um
einer Erscheinungsform in der kapitalistischen Warenwelt näher
auf den Grund zu kommen, die man aus der Geschichte als „deus
ex machina“ kennt und heute als „Magie“, als
„Mystifikation“, als „pars pro toto“ oder
„Kult“ als eine Art ‚Transformagie‘ auch in
ökonomischen Zusammenhängen wieder auftaucht.
Mit
solchen Ausdrücken aber kann man wenig anfangen, sind sie doch
wenig präzise bestimmt. Sie alle aber wollen einen Blick werfen
hinter eine gigantische Kulissenverschiebung, bei der die Akteure auf
der Bühne zur Staffage einer göttlichen Komödie
werden; der Verwandlung von Mitteln zu Zwecken, von Gegenständen
zu Werten, von wissenschaftlich-technischen Problemlösungen zu
ontologischen Seinsentwürfen.
Wie in der antiken Tragödie so erscheinen menschliche Handlungen heute immer zielloser im Dickicht ihrer Komplexität und ihres Konflikt- und Bedrohungspotenzials. In der antiken Tragödie erschien, dann, wenn kein Ausweg mehr sichtbar war, keine Entscheidung mehr logisch überraschend eine Gottheit, die dem undurchsichtigen Geschehen eine weise, glückliche Schlusswende gab. Der Deus ex machina schwebte in einer kranähnlichen Hebemaschine, der sogenannten Theatermaschine, über der Bühne oder landete meist auf dem Dach des Bühnenhauses, um die Macht der Götter und ihr jederzeit mögliches und schicksallenkendes Eingreifen darzustellen.
So bestimmten
damals die Götter, heute Wissenschaft und Technik über das
Sein des Menschen, gleichwohl Götter, Wissenschaft und Technik
allesamt von Menschen geschaffen sind, die Menschen diesen also
eigentlich überlegen und nicht unterlegen sind.
So lautet
daher auch der Kerngedanke von Marx zum Warenfetisch: So wie Gott,
der, obwohl ein Geschöpf menschlichen Denkens, seinen
menschlichen Schöpfer beherrscht, erscheinen den Produzenten die
von ihnen produzierten Waren wie ein Fetisch, obwohl sie nur
Vergegenständlichungen ihrer Arbeit sind. Der Warenfetisch nach
Marx bestehe also darin, dass den durch menschliche Arbeit
geschaffenen Produkten die Eigenschaften, etwa eine Ware zu sein und
einen Geldwert zu besitzen, als dingliche Eigenschaften, also als
Eigenschaften der Sache selbst zugesprochen wird, während es
sich in Wirklichkeit bei einer Ware und einem Geldwert um
gesellschaftlich bestimmte Zuschreibungen, um Grundstöcke an
Übereinkünften handelt.
Wer fragt sich schon, warum es so viele Tomatensorten gibt mit so vielen unterschiedlichen Preisen? Es gibt sie und innerhalb ihrer Produktion immanent scheint eine Tomate zu einer Ware mit Geldwertcharakter geworden zu sein, besser, als eine andere, hochwertiger, vielleicht auch bekömmlicher und gesünder.
Für Marx war der Gedanke der Verwandlung von gesellschaftlichen zu dinglichen „Eigenschaften“ ein ganz zentraler Gedanke, insofern der gesellschaftliche Charakter ihrer eigenen Arbeit den Menschen als gegenständlicher Charakter der Arbeitsprodukte selbst erscheint, vorgestellt als deren quasi Natureigenschaften1 . Und wie der Ware, dem Geld und dem Kapital anhaftende Eigenschaften unterstellt werden, die ihnen eigentlich gar nicht anders, als durch gesellschaftliche Bedingungen und Übereinkünfte zukommen, so gilt dies auch für die Technik und dem technischen Fortschritt.
Wenn man also in einer Art Zusammenschau von technischem und ökonomischen Fortschritt Wachstum und Wohlstand in ihrer historischen Entwicklung betrachtet, wie dies die Ökonomik allenthalben tut, dann läuft man Gefahr, die wirklichen Unterschiede in der Entwicklung der Produktivkräfte, ob man die Technik nun zu Kapital und Arbeit hinzu nimmt, oder nicht, zu verkennen.
Nimmt man nur die beiden Autoren Marx und Schumpeter zusammen in den Blick, dann muss man festhalten, dass die marxistische Fortschrittstheorie ganz maßgeblich von dem Unterschied zwischen „Produktivkraftentwicklung“, also der Entwicklung aller mit der menschlichen Arbeit zusammenhängenden Elemente und dem „technischem Fortschritt“ ausgeht. Schumpeter, wie gezeigt, nicht.
Die ontologische Blendung, zu dem wir den Begriff der Fetischisierung ausgedehnt haben, liegt darin, dass die moderne Ökonomik die Entwicklung der Marktwirtschaft immer schon in der Zusammenschau von Technik und menschlicher Arbeit betrachtet hat und auch weiterhin so tut. Der Unterschied also zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und dem technischen Fortschrit wird also im marktwirtschaftlichen Entwicklungsprozess als diese scheinbare Einheit von menschlicher Arbeit und Technik im Begriff der Produktivität verwischt. Geblendet von der sog. Mensch-Maschine Synthese als neue Form der Fetischisierung von Arbeit, geht die Ökonomik und das Selbstverständnis moderner Gesellschaften ihrer Wege.
Der Vorgang der Blendung verläuft durch eben die Nahtstelle zwischen technischem Fortschritt und marktwirtschaftlichem Verwertungsprozess. Je nachdem wie man den technischen Fortschritt betrachtet, ist er einmal die Weiterentwicklung bestimmter Produktionsmittel zum Zweck der Steigerung der Produktivkräfte bzw. des Faktors menschliche Arbeit im Produktionsprozess. Betrachtet man denselben Fortschritt aus der Perspektive der Kapitalverwertung, wird dieses Verhältnis von „Mitteln“ und „Kräften“ wie Marx formulierte, auf den Kopf gestellt2 . Nach Marx weiter, wird aus der Steigerung der Produktivkraft der Arbeit ein bloßes Mittel zur Erhöhung des relativen Mehrwerts3 , also eine Steigerung seiner Produktivität und so erscheint der technische Fortschritt als Steigerung der Produktivkräfte selbst. Was ohne den Menschen nicht geht, erscheint nun also, als ob die Technik das logisch und faktisch erste und derart essentielle wäre, dass der Mensch lediglich als ein Anhängsel der Technik erscheint.
Im Sinne der Kapitalverwertung erscheint die Technik als der Faktor, der zu einem größeren Quantum an Output, also einem Quantum lebendiger Arbeitskraft pro Zeitspanne aus dem Faktor Arbeit, verwertbar werden lässt. Technik ist aus diesem Blickwinkel ökonomisch zu einem eigenen Wertschöpfungsfaktor geworden, zu einer Produktivkraft, die aber nichts anderes ist, als die Produktionsmittel, die sich im Privateigentum und im Verwertungszusammenhang marktwirtschaftlicher Produktion sich befinden. Und deren Entwicklung durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt insofern mit Kraft betrieben wird, als deren Ergebnisse sich direkt in marktwirtschaftliche Verwertungszusammenhänge „diffundieren“4 lassen.
Was
die Ökonomik erkennt ist, dass der Begriff: technischer
Fortschritt wertend ist, weil von Fortschritt nur in Hinblick auf
eine ganz bestimmte Zielsetzung gesprochen werden kann; die mit dem
technischen Fortschritt einhergehenden Begleiterscheinungen
(Substitutionen, Rationalisierungen und damit eventuelle
Qualifikationsverluste durch die Einführung neuer Techniken,
neue Belastungsverschiebungen am Arbeitsplatz, Arbeitsplatzverluste
von Betroffenen) nicht einbezogen werden (Gabler).
Was sie nicht
erkennt, ist, dass technischer Fortschritt eine Trennung in die Welt
der menschlichen Arbeit treibt, aus der die menschliche Arbeit einmal
im ökonomischen Sinne als Subfaktor von Technik hervorgeht. Zum
anderen, gleichsam als deren gesellschaftlich-kultureller
Weiterentwicklung, erhält die technische Entwicklung eine
eigene, eine ontologische Dimension.
Technik wird synonym mit
Fortschritt und Wachstum als ein moderner Seinsentwurf und im
Zusammenhang mit moderner Wissenschaft, hauptsächlich den
Naturwissenschaften, als eine moderne Form des Verstehens, die den
praktischen Bezug des Menschen zur Natur aber auch zu sich und den
Mitmenschen maßgeblich mitbestimmt.
Heidegger
sah eine technische Weltauffassung sich immer weiter und tiefgehender
in der Welt einrichten. Er sah, oder vielleicht übernahm er auch
von Marx den Prozess der Verwandlung von Zusammenhängen
im Denken durch Technik:
„Das
Wasserkraftwerk ist nicht in den Rheinstrom gebaut, wie die alte
Holzbrücke, die seit Jahrhunderten Ufer mit Ufer verbindet.
Vielmehr ist der Strom in das Kraftwerk verbaut. Er ist, was er jetzt
als Strom ist, nämlich Wasserdrucklieferant, aus dem Wesen des
Kraftwerks.“(Heidegger 1953)
Leider übernahm Heidegger von Marx nicht die Reflexion auf diesen Wandel aus den ökonomischen Verhältnissen, sondern beließ es bei einer Wesensschau aus der Philosophie, hier aus der Metaphysik. Deshalb blieb auch Heidegger ontologisch geblendet, zwar nicht durch die Technik selbst, sondern durch deren Abstraktion von deren politischen und ökonomischen Bedingungen.
Produktivkräfte und Technischer Fortschritt
Die
Marktwirtschaft zählt den Faktor Macht nicht direkt zu den
produktiven Faktoren. Das hat wissenschaftstheoretische Gründe
und erhebliche Auswirkungen. Innerhalb der Marktwirtschaft gibt es
bei den Faktoren, oder wie früher genannt, den Produktivkräften
schon einige Unstimmigkeiten, die wir zunächst diskutieren, und,
wenn möglich, ausräumen möchten, bevor wir mit
weitergehenden Gedanken beginnen.
Was wir in diesem Kapitel oft
aber eher am Rande erwähnt haben, dass nämlich, konträr
zu den starren volkswirtschaftlichen Theorieansätzen der
Neoklassik, die Marktwirtschaft gerade darin ihr Besonderes hat,
extrem anpassungsfähig zu sein, dieser Randgedanke rückte
bereits bei Marx ins Zentrum der Überlegungen und Analysen der
Produktivkräfte.
Marx
differenzierte die Marktwirtschaft – den Kapitalismus –
von vorhergehenden Wirtschaftsformen dadurch, dass in den
Kapitalismus vorgängigen Wirtschaftsformen bestimmte
Produktionsweisen gegenüber Veränderungen beibehalten
wurden, dass „unveränderte
Beibehaltung der alten Produktionsweise war … die erste
Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen“.
Der wesentliche Unterschied zur Marktwirtschaft besteht nun darin,
dass: „die
Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente,
also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche
gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu
revolutionieren“5 .
Das
vermuten heute nicht mehr viele Ökonomen als Zitat tiefer
Einsicht in die Marktwirtschaft und schon gar nicht aus der Feder von
Karl Marx. Denn Marx erkannte damals schon, als der industrielle
Fortschrit quasi noch in den Kinderschuhen – verglichen mit
heute – steckte, dass Industriegesellschaften gegenüber
etwa Feudalgesellschaften nicht nur eine andere industrielle Art der
Produktion aufwiesen, sondern dass die Art der Produktion sich auch
ständig innerhalb marktwirtschaftlicher Produktionsweisen
verändert.
Marx unterschied so zwischen einer „konservativen“ und einer „revolutionären“ Entwicklung, wobei die revolutionäre sich ganz zentral aus den technischen Fortschritt gründet. Mit dem technischen Fortschritt also ist gleichsam marktwirtschafts-inhärent auch der Fortschrittsprozess der marktwirtschaftlichen Produktionsverhältnisse eng verbunden, denn die technische Basis, auf denen sie beruhen, sind „revolutionär, während die aller früheren Produktionsweisen wesentlich konservativ war(en)“. 6
Man muss schon feinsilbig lesen, um Marx dahingehend zu verstehen, dass sich mit der Entwicklung marktwirtschaftlicher Produktion die historische Bedeutung und Wirklichkeit des technischen Fortschritts fundamental geändert hat und dass gleichzeitig trotz der Engführung von technischem Fortschritt und Fortschritt der marktwirtschaftlichen Produktionsverhältnisse diese nicht in eins fallen. Wir haben das so begründet, dass auch am technischen Fortschritt in der Marktwirtschaft ganz fundamental nicht-ökonomische Bedingungen der Kapitalverwertung beteiligt sind.
‚Konservative‘
Marxisten ziehen nach wie vor eine Grenze zwischen dem historischen
Materialismus und der Entwicklung marktwirtschaftlicher Produktion,
indem sie behaupten, mit dem Kapitalismus verliert sukzessive der
technische Fortschritt seine „revolutionäre“ Kraft,
Kapitalismus und wissenschaftlich-technische Revolution wohnten so
sehr unter einem Dach, dass ein Umzug in neue Behausung, in neue
Formen gesellschaftlicher Produktion unmöglich wird.
Natürlich
spricht alles dafür, dass die Entwicklungen im Bereich der
Wissenschaft und deren Umsetzung in Technik kein revolutionäres
Prinzip kennzeichnen, keine Kräfte, die den Kapitalismus zu
etwas „besserem“ machen, als er ist. Aber das waren sie
nie. Deshalb repräsentieren die technischen Wissenschaften und
ihre industriellen Ergebnisse, die sich innerhalb
marktwirtschaftlicher Verhältnisse unlimitiert entfalten können,
auch keinen, über diese Verhältnis hinausgehenden
historischen Fortschritt, der sich in einer Art permanenter
politischer Revolution äußern würde und aus sich
selbst heraus politische Verhältnisse verändern würde.
Diese Autarkiephantasien sind zumal der technischen Entwicklung nur allzu inhärent, dass man eigentlich nur staunen kann, woher diese kommen und wie sie sich so nachhaltig durch alle Änderungen, politischer wie technischer Art, halten konnten. Das alte Dilemma des einstigen realen Sozialismus, dass mit der Änderung der politischen sich auch die Arbeitsbedingungen verändern, zeigte sich daran, dass selbst wenn man jene zum vermeintlich besseren, zu sozialistischen und diese zu kollektiven Formen veränderte, sie leider sich nicht automatisch zum besseren entwickelten. Das kam daher, dass damals schon die geistigen Kader eine strikte Trennung zwischen Politik und Technik dachten und meinten, eine „gute“ Politik führt auch zu einer „guten“ Technik zu kollektivem Nutzen. Aber das einzige, was an Nutzen heraus kam, war ein kollektives Versagen zum Nutzen von niemanden und ein geistiges Versagen, das weit hinter Marx noch zurückblieb. Wer nur drei Minuten damals dem Staatsratsvorsitzen der DDR oder seiner wirren Gattin zugehört hat, konnte kaum noch ertragen, wohin menschliches Unvermögen im Geiste politisch wie kulturelle führen kann; eben ins Unerträgliche.
Dass Marx also einer marktwirtschaftlichen Produktion die Kraft der ständigen und nachhaltigen Erneuerung durch die Freisetzung der wissenschaftlich-technischen Entwicklungspotenziale attestiert, jemand, der doch die „Revolution“ für eine Arbeiterbewegung hielt, mag manchen erstaunen, bindet aber locker mit seiner Analyse des Kapitals. Wir haben es anscheinend mit ‚zwei‘ Revolutionen zu tun. Aber bleiben wir bei der Technik.
Innerhalb der marktwirtschaftlichen Produktion scheint der technische Fortschritt so sehr aus sich selbst heraus zu verlaufen, dass einzelne technisch-technologische Entwicklungen nicht mehr wie früher ganze Staatsformen niederreißen – wie im Fall des Schwarzpulvers – oder niederschreiben konnten – wie im Falle der Druckerpresse. Heute scheint die Grenze des technischen Fortschritts genau da zu liegen, wo wir sie grundsätzlich anthropologisch bestimmt haben, nämlich in der so weit gehenden Veränderung der menschlichen Lebensgrundlagen, dass menschliches Leben überhaupt nicht mehr möglich ist. Eine Veränderung des technischen Fortschritts zieht keine Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse notwendigerweise nach sich, die diesen Prozess in eine andere Richtung verändern könnte; so die landläufige Meinung, die kontrastiert wird von einer ebensolchen, die dem technischen Fortschritt eben diese Form der Entwicklung einräumt – wir kommen darauf zurück.
Die einen sehen im technischen Fortschritt den Grund für eine romatische Rückkehr zu vormals revolutionären, vormodernen, vor-technischen Lebensformen, die anderen stellen sich nicht in Opposition gegen den Fortschritt, sondern führen eine apologetische Fortschrittspropaganda, besonders in den Reihen der neuen digitalen Technologien, und feiern so den wissenschaftlich-technischen Fortschritt in der entwickelten Marktwirtschaft, als wenn er unverändert der Motor des historischen Fortschritts wäre, der er in der entstehenden Frühform der Marktwirtschaft mit ihrer industriellen Produktionsform gegenüber den feudalen Formen der Produktion einmal war. Schaut man, wie bereits getan, auf die modernen Formen digitaler „Produktion“, so erkennt man erstaunt zunehmende Remanenzen neofeudaler Strukturen, ganz besonders in der digitalen Plattform-Wirtschaft; so viel dazu bis hier her.
Produktivkraft – Theoretische Ansätze
Wer
sich heute theoretisch mit dem Begriff der Produktivkraft
beschäftigt, wird bald gewahr werden, dass in dem heillosen
Durcheinander unterschiedlichster theoretischer Ansätze kein
Durchkommen mehr möglich ist.
Die Grafik zeigt übersichtlich den Stand der Begriffsbestimmung zum aktuellen Stand im Jahr 2018.
War
in der marxistischen Theorie die Arbeitskraft letztlich alleiniger
Produktionsfaktor, so kamen in der Klassik Boden und Kapital dazu,
deren Einkommensarten Bodenrente und Profit sich nun zum Lohn für
den Faktor Arbeit addierten.
Bereits
in der Mitte des 18. Jhd. wusste der Franzose Say7 ,
dass Kapital allein nichts bewirkt und fügte als weiteren
Produktivfaktor die unternehmerische Tätigkeit hinzu.
Dann
wurde Kapital zu einem derivaten Produktionsfaktor nach den
originären Arbeit und Boden, und in der modernen Ökonomik
vollzog sich ein Paradigmenwechsel bei der Bestimmung der
Produktivkräfte fast unbemerkt. In der ursprünglichen
Bestimmung galt es, eine Zuordnung zu definieren, nämlich die
zwischen einer Tätigkeit und einem Ertrag. Der Begriff der
unproduktiven Arbeit war erfunden. Es folgten Brachland und
unproduktives Kapital.
Die Zuordnungsnotwendigkeit zwischen
Tätigkeit und Ertrag ergab sich daraus, dass Wirtschaft keine
starre Entität, sondern ein höchst dynamisches
Betätigungsfeld darstellt, auf dem es Stillstand, Fortschritt
und Rückschritt gibt und man, um den Fortschritt bzw. das
wirtschaftliche Wachstum kategorial differenzieren zu können,
eine richtungsbezogene Größe deren Meßbarkeit finden
musste. Ordnet man einer Tätigkeit einen Ertrag zu, dann denkt
man dahinter notwendigerweise die Tätigkeit als eine personelle
Tätigkeit.
Auf dieser Grundlage war noch der Boden, insofern er aus sich selbst heraus etwas herstellt, etwas wachsen lässt, auch ohne den Faktor menschliche Arbeit theoretisch zu integrieren, das Kapital machte es dem Wissenschaftler dann schon schwerer, lag es doch ohne menschliches Zutun nur unproduktiv rum. Dem Kapital auf dieser theoretischen Grundlage einen derivaten Status zuzuschreiben, war also naheliegend.
Produktivkraft
war also demnach alles, was aus sich selbst heraus die Kraft oder
Energie hatte, etwas zu verändern bzw. zu nutzen oder nutzbar zu
machen, also ein endogener Faktor. Warum in der
Klassik dann die Energie selbst nicht zu den Produktivkräften
gezählt wurde, bleibt unverständlich. Neben diesem
naturalwirtschaftlichen existierte ein sozialwirtschaftlicher Ansatz,
in dem allein Arbeit als Produktivkraft gilt, ist hier die Arbeit ja
vom Arbeiter nicht zu trennen.
Im Übergang zu den modernen
Ansätzen stellt Preiser8
fest, dass diese Bindung eines Ertrags an eine produktive, personelle
Kraft theoretisch nicht aufgeht. Denn dann müsste
konsequenterweise der naturalwirtschaftliche Ertragsanteil von
Kapital und von Boden eben den Kapital- und den Bodenbesitzern
zugeordnet werden. Diese Zuordnung zwischen Kapital und
Kapitalbesitzer aber ist von einer ganz anderen Ordnung als die
zwischen Arbeiter und Arbeit.
Der Zusammenhang von Ertrag und Besitz ist nicht identisch mit dem zwischen einer Arbeit, die ein Mensch erbringt und dem Menschen, der sie erbringt. Preiser löste das Problem zwischen Identität und Differenz im sozialwirtschaftlichen Kontext einfach dadurch, dass er zu Marx zurückkehrte und nur noch einen Produktionsfaktor, die Arbeit, also einen sozialwirtschaftlichen Produktionsfaktor zuließ. Kapital und Boden wurden Produktionsmittel.
Ein Ochse ist also ein Produktionsmittel, solange ein Bauer ihm mit der Peitsche den Weg durch den Acker weist. Ohne die ist er ein Ochse, der über die Wiesen springt, etwas Gras und Wasser beizeiten zu sich nimmt, kleine Ochsen zeugt und genüsslich rumliegt, wenn seine natürlichen Bedürfnisse befriedigt sind. Würde er dazu nach gelegentlich fischen gehen, hätten wir das Bild eines aus seiner Verdinglichung und Entfremdung durch kapitalistische Produktionsverhältnisse befreiten Menschen; hier als Ochse vorgestellt.
Aus Sicht eines naturalwirtschaftlichen Ansatz aber ist der Ochse, egal was er macht, durchaus als Produktivkraft anzusehen, als eben ein Teil der Kräfte der Natur, die aus sich selbst heraus ein Wachstum zustande bringen. Welcher Art dieses Wachstum ist, stellen wir einmal kurz zurück, sehen aber, dass innerhalb der modernen Theorieansätze der Boden durch den Begriff der Ökologie substituiert wird. Und überhaupt wurde der Ansatz ‚Substitutive Produktionsfaktoren‘ immer wichtiger und hat sich wie ein frei flottierendes Spekulationskapital ungebremst in alle Bereiche der ökonomischen Produktionsmodelle verbreitet.
Man dachte dabei nicht mehr an die eigentliche Fragestellung, wie man Produktivität bestimmen kann, sondern ob und mit welchen Auswirkungen man alles, was als produktiv bestimmt ist, substituieren kann. Die Produktivkraft wurde zu einem Substitutionsfaktor, dessen berechenbare Größe die Isoquante ergab. In der Unternehmenstheorie beschreibt die Isoquante alle möglichen Inputkombinationen, mit denen der gleiche Output erzielt werden kann, also wie viele Ochsen und Humankapital – hier noch physische Arbeitskraft – einem Traktor gleichkommen.
Wir
haben andernorts bereits gesehen, dass die Krux aller dieser
Isoquanten die Annahme einer festen, gleich bleiben Produktmenge ist;
in unserem Ochsenbeispiel etwa die Menge an Getreide. Angenommen auch
das Wetter bliebe gleich, so liegt die Grenzrate
der Substitution nicht darin, dass derselbe Bauer, der den Ochsen
schnurgerade und in der dem Ochsen rechten Geschwindigkeit durch den
Acker peitscht, nicht auch den Tracker entsprechend bedienen
kann.
Der Wechsel vom physischen zum geistigen Anteil im
Humankapital birgt die Gefahr (Grenze), dass, wenn
der Ochsenbauer seine Traktorkompetenz erworben hat, er im Falle
seiner vollkommenen Substituierbarkeit vielleicht noch als
Traktoreningenieur der Landwirtschaft erhalten bleibt, aber der
Traktor genauso dumm auf dem Acker rumsteht wie der Ochse ohne
Peitsche. Und wir wieder vor derselben Frage, was ist die
Produktivkraft?9
Die moderne Theorie hat die Ursache für die Schwierigkeit der Bestimmung der Produktivkraft implizite erfasst, nur leider nicht als konstitutiv für ihre theoretischen Ansätze begriffen. Der Schwierigkeitsgrad hinsichtlich der Substituierbarkeit und in der Folge auch deren berechenbarer Grenzwertigkeit liegt an der Art der Komplementarität der Produktionsfaktoren, die sich in der Substitutionselastizität der Isoqanten repräsentiert.
Das heisst, einfach gesagt: das, was in der Klassik noch aus dem Ansatz einer Indifferenz heraus als Produtivität bestimmt wurde, waren gleich geordnete und -gewichtete – im Begriff des Ertrags – Faktoren: Boden, Arbeit, Kapital. Jeder dieser Faktoren wurde unter der Sichtweise von Wachstum als Technischer Fortschritt vorgestellt und als Indifferenz von Mensch und Maschine oder, sozialwirtschaftlich betrachtet, als Steigerung der menschlichen Arbeit durch technischen Fortschritt bestimmt.
Von
dort war es natürlich logisch konsequent, die Substituierbarkeit
als Berechnungsgrundlage anzunehmen, sich also zu fragen, wie viele
Bauer-Ochsen-Einheiten entsprechen einer Bauer-Traktor-Einheit (bei
gleicher Output-Menge), um dabei aber, eben so konsequent, sich vor
der Unvereinbarkeit der Gleichsetzung wie der Trennung von
Produktivkraft und Produktionsmittel wieder zu treffen.
Wir finden
also auch in diesem Kontext wieder zurück zur Komplementarität,
zu einem komplementären Verhältnis zwischen Produktivkraft
und Produktionsmittel. Letztlich ist immer schon ein Bauer hinter
einem Ochsen hergelaufen und es sprechen einige Gründe dafür,
dass sich an diesem Bild auch im Verhältnis zwischen Mensch und
Smartphone oder PC nichts wesentlich geändert hat.
Gehen wir von der Annahme aus, dass die Grenzrate der Substitution sich innerhalb der Komplementarität der Produktivfaktoren bildet, dann ist keineswegs, wie dies die moderne Theorie annimmt, der knappere Faktor allein, der die Produktion begrenzt, sondern natürlich der mit dem knapperen Faktor verbundene Faktor. Man kann also nicht einfach davon ausgehen, dass entweder die geringere Menge an Traktoren oder, quasi gleichbedeutend, die geringere Menge an Traktorfahrer die produzierte Menge an Getreide beeinflusst, gleichwohl beide Fälle evidenterweise dies nahelegen.
Dieser sog. limitationale Ansatz geht in diesem wie in jedem anderen Fall der Berechnung der Grenzen der Produktivkraft jeweils davon aus, dass es prinzipiell um ein reziprokes Verhältnis von Über- oder Unterkapazitäten bei Traktoren bzw. Traktorfahrern bei der Grenzberechnung der Produktivität geht; im Idealfall ist dieses Verhältnis ausgewogen, aber dann würde es gewissermaßen theoretisch Nacht und alle Katzen grau, sprich, eine Veränderung innerhalb der Produktivfaktoren fände nicht mehr statt, ohne einen exogenen Faktor, den wir uns näher anschauen sollten.
Neue Wachstumstheorien
Fast unbemerkt hat sich ein zweiter Wandel vollzogen. Mit dem Wandel von Produktivkraft und Produktionsmittel zu einer differenzlosen Einheit im Faktor Arbeit, hat sich auch die Betrachtung der Produktivkraft hin zu Wachstum verschoben. Die Denkrichtung bzw. die Analyse der wirtschaftlichen Kräftefaktoren geht nicht mehr aus von der Produktivkraft zum Wachstum, sondern in umgekehrter Richtung vom Wachstum zur Produktivkraft.
Die Antwort auf die erste der drei zentralen Fragen: hat sich die Richtung des Denkens mit der Gleichsetzung von Produktivkraft und Wachstum geändert, hat sich damit bereits ergeben. Die zweite damit verbundene Frage: hat mit dem Richtungswechsel auch zugleich ein Paradigmenwechsel stattgefunden, sind also neue Bedingungen in die Analyse eingeführt worden bzw. kann man im Denken dieser Einheit von Produktivkraft und Wachstum einen Fortschritt im Denken der modernen Ökonomik erkennen? muss uns nun beschäftigen.
Nach den Auffassungen der modernen Wachstumstheorien gründen alle Ansätze auf einer impliziten oder expliziten Theorie des Technischen Fortschritts, die wiederum in einer endogenen Auffassung des Wachstums selbst versammelt sind. Endogen heisst, dass alle Erklärungen von Wachstum nicht auf modellexogenen Eigenschaften der empirischen Analysen, sondern auf modellendogenen, also auf die innerhalb eines Modells verwendeten Eigenschaften beruhen, also vom Modell und nicht nur in empirischen Analysen auch erfasst werden. Das klingt widersprüchlich und den wissenschaftlichen Geist empirischer Untersuchungen zu konterkarieren, ist aber weitaus trivialer, trotzdem signifikant.
Modellendogene Ansätze in der modernen Theorie zur Erklärung von Wachstum, also auch zu den Produktivfaktoren, gehen an die Analysen mit den gleichen oder ähnlichen Modellannahmen wie die Neoklassik selbst, oder weichen fundamental von diesen neoklassischen Annahmen ab. Während die einen von Gleichgewichten und vollkommenen Märkten ausgehen, gründen die anderen auf der Annahme, das gerade Marktunvollkommenheiten dauerhaftes Wachstum erklären. Prima vista erscheint der Unterschied epistemologisch trivial, findet ja in vollkommen Zuständen kein Prozess der Veränderung mehr statt, bzw. nähert sich jede Isoquante tangential bei Annäherung an ein Maximum ihrem Minimalwert Null.
Analysieren
die einen Wissenschaftler die unterschiedlichsten Faktoren bzw.
Produktivkräfte, also bleiben innerhalb eines makroökonomischen
Modells, so gehen andere über makroökonomische Modelle
hinaus. Dabei ist es nicht einfach, genaue Demarkationslinien
zwischen den modell-immanenten und den modell-transzendenten Ansätzen
zu ziehen.
Im wesentlichen aber unterscheiden sich beide
Denkrichtungen paradigmatisch, wobei die einen sich innerhalb eines
Feldes unterschiedlicher Produktivkräfte resp.
sozialwirtschaftlicher Faktoren wie Humankapital, Wissen, Forschung
und Entwicklung (F&E), Produktvielfalt10 ,
struktureller Faktoren wie z.B. neue Produktionsverfahren und
variante Marktstrukturen sowie wirtschaftspolitischer Faktoren wie
vor allem wirtschaftspolitische Stabilität, fiskalbedingte,
moderate Wohlstandsunterschiede, oder
ungehinderter internationaler Handel durch stabile Verträge und
Sanktionen bewegen. Damit haben
wir auch Frage zwei nach einem Paradigmenwechsel beantwortet.
Ohne
auf die einzelnen, inhaltlichen Bestimmungen der Faktoren einzugehen,
soll festgehalten werden, dass die neuen Wachstumstheorien in ihrem
paradigmatischen Wechsel mit der Ausweitung des Modells auch den
Fragehorizont ausweiten. Es soll nun nicht mehr nur erklärt
werden, wie Wachstum entsteht, sondern zugleich auch wie die am
Wachstum beteiligten Faktoren erzeugt bzw. optimiert werden.
Wiederum
zur Illustration sei der Einfachheit halber angemerkt, dass alle
klassischen Wachstumstheorien, die, angefangen bei Marx, allein die
Arbeitskraft als wertschöpfend bestimmt haben bzw. bestimmen,
wenig bis nichts darüber aussagen können, wie denn
dauerhaftes Wachstum gesichert wird. Wie ein Technischer Fortschritt
überhaupt zustande kommt und welche Einflüsse und
Bedingungen dafür maßgeblich sind? Von sich aus investiert
weder ein Arbeiter noch ein Unternehmer in Bildung, Forschung und
Entwicklung etc.
In
diesem Zusammenhang kurz vermerkt sei auch, dass die Hinzunahme von
unternehmerischer Tätigkeit zu den Produktivkräften eben
solche theoretischen Schwierigkeiten macht. Nicht nur, dass
Unternehmensinteressen wie auch die Interessen deren organisatorisch
obersten Entscheidungsvertreter oftmals nur als kurzfristige
Bilanzinteressen existieren, sondern dass deren Verhalten, entgegen
einer Sicherung nachhaltigen bilanziellen Wachstums wie im sog.
Diesel-Skandal zu sehen, sogar zu erheblichen Schäden für
das Unternehmen und darüber hinaus indirekt in einer ganzen
Branche bzw. Volkswirtschaft führen kann.
Das eingesetzte
Humankapital hat sich in diesen Fällen in der
Automobilwirtschaft, privater wie öffentlicher Banken und
Versicherungen, der Immobilienwirtschaft etc. mehr als schlecht
rentiert.
Wenn also Bedingungen und Einflüsse auf Wachstum analysiert werden, dann gilt es also nicht nur, makroökonomische Kennzahlen zu erklären bzw. zu bestätigen, sondern Einflüsse auf makroökonomische Kennzahlen, jenseits solcher Kennzahlen zu identifizieren. Man könnte hypothetisch auch davon ausgehen, dass, wenn sich makroökonomische Kennzahlen über eine angemessene Zeitraumbetrachtung nicht bestätigen lassen, die Einflüsse aus anderen Feldern, also nicht den ökonomischen Bedingungen zugerechneten, erhöhen.
Das Feld der makroökonomischen Kennzahlen lässt sich beispielhaft mit den sog. Kaldor-Fakten eingrenzen11 und gilt als die Grundlage der sog. Balanced-Growth-Theory, wonach in neoklassischen Analysen ein stilisierter Faktenkatalog von Faktoren den Wachstumsprozess trägt; unschwer zu erkennen, dass es sich hierbei um die beiden Grundfaktoren Kapital und Arbeit handelt. Eben so unschwer zu erkennen aus heutiger Sicht ist, dass alle Faktoren der Balanced-Growth-Theory sich als unrichtig erwiesen haben, was uns dazu bringt, unserer Vermutung, dass die „externen“ Faktoren eventuell an Einfluss gewonnen haben müssten.
Zwei
Ansätze, solche Einflussfaktoren zu identifizieren, bieten jene
modernen Wachstumstheorien, die sie in den Einkommensunterschieden
innerhalb einer Volkswirtschaft sowie zwischen Volkswirtschaften
finden, oder generell in den divergenten Einkommensverläufen
über einen längeren Zeitraum betrachtet. Dabei betrachtet
der Ansatz des sog. Directed Technological Change den Technischen
Fortschritt aus dem Blickwinkel von Qualifizierung bzw. Bildung und
erkennt im Ergebnis, dass das Verhältnis von qualifizierten zu
unqualifizierten Arbeitskräften über einen Zeitraum von
sechzig Jahren gestiegen ist, aber andererseits nicht beobachtet
werden konnte, dass das Verhältnis der Löhne für
qualifizierte und unqualifizierte Arbeit gesunken wäre.
Es
verwundert ein wenig, dass Acemoğlu hier allein auf
neoklassische Ansätze, wie den von Angebot und Nachfrage
vertraut, also ähnlich wie im Romer-Modell vorgeht, um externe
Faktoren zu identifizieren. Die Differenzierung zwischen
qualifizierter oder unqualifizierter Arbeit und deren strukturelle
Gleichsetzung mit einem Wachstumsmodell auf der Basis von Technischen
Wachstum führt zwar zu einer feineren Justierung, verlässt
aber das neoklassische Modell paradigmatisch nicht wirklich, da auch
hier mit der substitutiven die traditionellen Annahmen nicht
überschritten werden.
Nach Acemoğlu werden Technologien komplementär zum Faktor Arbeit entwickelt, hier differenziert nach qualifizierter und unqualifizierter Arbeit. Wäre dies so, dann stünde es auch im fundamentalen Interesse eines Unternehmens, finanzielle Ressourcen in die Entwicklung neuer Technologien komplementär zum jeweiligen Produktionsfaktor Arbeit zu lenken, wofür der wachsende Grad an Automatisierung im industriellen Zeitalter spricht. Angenommen, die Motivation bzw. der Anreiz, in bestehende technische Entwicklungen zu investieren wäre gegeben, dann wäre sie von zwei Effekten abhängig, dem Preis- und dem Marktgrößeneffekt. Setzt man die Eigenschaft komplementär gleich mit substitutiv, dann stimmt die Formel, dass, wenn sich – wie im Beispiel der Entwicklung der Computertechnologie gerne aufgezeigt – das Verhältnis von qualifizierter zu unqualifizierter Arbeit erhöht, der Markt für Innovationen komplementär zur qualifizierten Arbeit relativ größer wird. Dem Marktgrößeneffekt entspricht dann auch der Preiseffekt, insofern die relativen Profite im Einsatz solcher Technologien auch steigen, wenn der Marktgrößeneffekt dominant gegenüber dem Preiseffekt bleibt, da ja der relative Preis der produzierten Güter nach diesem Modell sich reduzieren muss.
Wir
sehen, dass nur dann der Marktgrößeneffekt gegen den
Preiseffekt zum Tragen kommt, wenn die Substitutionselastizität
zwischen qualifizierter und unqualifizierter Arbeit hinreichend groß,
der Marktgrößeneffekt also dominant ist. Die Richtung des
technischen Fortschritts verlagert sich dann nachhaltig zugunsten von
qualifizierter Arbeit. Damit steigt auch die Produktivität von
qualifizierter Arbeit relativ zur unqualifizierten Arbeit, so dass
auch ein Anstieg des relativen Lohnes für qualifizierte Arbeit
beobachtet werden kann.
Warum in Gottes Namen war dann die
Einführung und die Entwicklung der Computertechnologie in den
westlichen Industriestaaten so unterschiedlich verlaufen?
Warum
verlaufen die Investitionen selbst in bereits bestehende technische
Entwicklungen auch heute noch so markant unterschiedlich in den
westlichen Ökonomien?
Warum erkennen wir signifikante
Divergenzen bei der Einführung neuer Technologien wie etwa
Künstliche Intelligenz (KI) in diesen Volkswirtschaften?
Kann
eine Theorie, die nicht mehr am Paradigma des endogenen Wachstums
festhält, mehr Klarheit bezüglich der Faktoren, die
maßgeblich sind für Wachstum beitragen?
Oded
Galor entwickelte hierzu den Ansatz der ‚Unified
Growth Theory‘ und fand heraus, dass es in einer langfristigen,
also einer historischen Betrachtung, weder ein, gemessen am
Pro-Kopf-Einkommen, signifikantes Wirtschaftswachstum gegeben hat,
wie auch im gleichen Zeitraum im internationalen Vergleich nahezu
keine Einkommensunterschiede festzustellen waren. Aber allein die
empirische Basis zu verbreitern und den unterschiedlichsten
historischen Ausprägungen des Wachstumsprozesses bzw. dessen
treibenden Kräften nachzuforschen ist methodisch wie auch
historisch höchst fragwürdig. Daran ändert auch
nichts, wenn als grundlegendes Kriterium das Zusammenwirken von
demografischer Transition und wirtschaftlicher Entwicklung angesetzt
wird.
Die Veränderungen im Bevölkerungswachstum mit dem
wirtschaftlichen Wachstum in Verbindung zu setzen, ist grobschlächtig
und außer in Tautologien mit keiner sinnvollen Schlussfolgerung
verbunden12 .
Die Erfindung des Geldes
Geld macht erfinderisch. Diesen Satz wird wohl jeder unterschreiben. Dieser Satz ist zum Axiom moderner Wachstumstheorien geworden. Sie unterstellen ein endogenes Wachstum, da Geld resp. Kapital ja nun mal zu einer makroökonomischen Kategorie zählt. Dass Geld im Sinne von Kapital eine makroökonomischen Kategorie ist, daran zweifeln wir nicht. Aber damit ist noch nicht bewiesen, dass allein makroökonomische Betrachtungen die produktiven Faktoren für wirtschaftliches Wachstum bzw. Technischen Fortschritt erreichen.
Kontrastieren wir den von Oded Galor entwickelten Ansatz der ‚Unified Growth Theory‘ mit Weatherfords ‚Geschichte des Geldes‘ (1999)13 , dann sieht man, dass etwa das skythische Protogeld14 für die Händler damals, die ganze Warenlager an Olivenöl, Weizen und Bier etc. transportierten, sehr vorteilhaft war, für die normalen Menschen aber, die ihren täglichen Bedarf auf den Märkten deckten, keineswegs. Die Transformation von Warenwerten in ein Äquivalent half jenen wenig, die weder zählen, rechnen noch messen konnten und auch nichts besaßen, was man messen hätte können.
Eine der Kernfunktionen des Geldes, dass man fast alles, was Menschen schaffen oder besitzen, damit bewerten kann, kam also allein denen zugute, die Getreide, Vieh, Transportmittel und Mathematik besaßen; wer nichts davon hatte, brauchte auch nicht rechnen. Die, die Handel trieben, waren also auch des Rechnens fähig. Dass somit Mathematik keine makroökonomische Kategorie ist, dürfte einleuchten.
Eben solche externen Wachstumsfaktoren kamen mit dem Handel ins Spiel, zum Beispiel eine antike imperiale Infrastruktur. Die historisch ältesten Tauschmärkte waren lokal, später dann oft um Tempel und Theater organisiert. Die alten Tauschmärkte waren oft Gütermärkte, also wurden Waren gegen Waren getauscht. Der Transport hin und weg von den Märkten war allein schon auf lokaler Ebene beschwerlich. Geld erleichterte diese Translozierungen der Warenmengen erheblich.
In der Welt des einfachen Warentausches können daher Verkehrsmittel wenig bewirken, zumal die meist verderblichen Waren der Subsistenzwirtschaft ohnehin keinen weiten Transportradius vertrugen. Wenn aber die Tauschwirtschaft zum Äquvalententausch, also in eine entwickelte Tauschwirtschaft sich wandelt und zugleich durch Handel die Vielfalt der Waren zunimmt, wird es enorm sinnvoll, Straßen zu bauen und zu unterhalten; nicht nur, aber auch zum Truppentransport. Straßen waren schnell zur Schlüsseltechnologie des Imperium Romanum geworden und das Geld natürlich in seiner geprägten Gold- oder Silber-Münzform Ausdruck seiner historischen Form der Tauschwirtschaft.
Schon in der Antike, sogar in der Vorzeit der Antike war es von ganz erheblicher Bedeutung, dass Geld seinen Wert behielt. Seinen impliziten Wertcharakter hatte Geld damals noch in seiner materiellen Form, in Gold und in Silber. So sind denn auch Gold und Silber nicht an Geld gebunden, dieses aber im ökonomischen Sinne sehr stark. Man machte sich damals also eine außerökonomische Werthaftigkeit, also einen materiellen Wert außerhalb von Tauschvorgängen für ökonomische Zwecke nutzbar. Zudem war an den materiellen auch ein psychologischer Wert direkt gekoppelt, das Vertrauen in die Wertbeständigkeit, die bei den Lydiern noch vor Gold und Silber dem Elektron, eine natürliche Legierung aus Gold und Silber, zugesprochen wurde.
Neben dem Vertrauen wird dem Geld, besonders in Form von Edelmetallen, auch die Eigenschaft von Glück attestiert. Heute sind Edelmetalle zugleich ’sichere‘ Wertaufbewahrung, besonders in volatilen, d.h. Zeiten schwankender Wertgrößen, Zeichen von einem materiell gelungenen Lebensentwurf und staatlicher Macht in Form von Währungsreserven. Edelmetallen, vor allem Gold haftet der Fluch der Macht an, ihnen folgten Krieg, Versklavung und Verlust von Leben und Land. Gold als Währungsreserve ist ein Phänomen demokratischer Gesellschaften, eine Art Augenwischerei.
Erinnern
wir uns zurück an den sagenumwobenen König Kroisos, Lydier,
sehr reich. Seinem Reichtum, seinem Glück und seiner Macht stand
der persische Großkönig Kyros entgegen. Entgegen
landläufiger Meinung, Kyros habe Krösus dem Scheiterhaufen
überlassen, berichte der bekannteste Geschichtsschreiber der
Antike, Herodot, Kyros habe Krösus am Leben lassen, da ein
reicher König nützlicher wäre als ein toter.
In den
beiden gegensätzlichen Geschichtsschreibungen mag man den
Übergang von Macht aus einer geldlosen Zeit bzw. einer Zeit, in
der das Geld den eben erwähnten Tauschzusammenhang noch nicht
eingenommen hat, in die Zeit des monetären Tauschhandels sehen.
In Zeiten
vormonetären Warentauschs war Macht verbunden mit der
Herrschaft, insofern ein Alleinherrscher seine Macht zur Durchsetzung
auf eine Gruppe von Beamten und Vasallen gründete, die von ihm
bezahlt wurden. Wie wir bereits mehrfach gezeigt haben, hat die
Nachlässigkeit bei der fundamentalen Unterscheidung zwischen
Privateigentum als ein ökonomie-externer Begriff mit dem Begriff
Besitz als ein makroökonomischer Begriff zentralen Einfluss
darauf, warum die Ökonomik die Dynamik des Wirtschaftens nicht
versteht.
Dasselbe geschieht allenthalben in der Ökonomie –
aber auch in fast allen Lebensbereichen – mit der
Nachlässigkeit bei der Unterscheidung von Macht und Herrschaft.
Macht und Herrschaft werden theoretisch wie in der landläufigen
Meinung gleichgesetzt. Macht ist Herrschaft und Herrschaft ist Macht.
Unser
kleiner Rückblick in die Geschichte aber lässt bereits
Unterschiede erkennen und ein komplementäres Verhältnis,
kein substitutionelles zwischen Macht und Herrschaft vermuten. In
vormonetären, Warentausch basierten Gesellschaftsformen,
beanspruchten Herrscher grundsätzlich alle verfügbaren
Ressourcen für sich. Und auch die benachbarter bzw. anderer
Herrscher; man führte Krieg und nahm sich, was einem danach
gehörte.
Symbolisch legten sich die Herrscher damals Gold und
Gegenstände in ihre Grabkammern, die sich den Blicken der
Archäologen späterer Zeiten wie Schatzkammern und
Rumpelkammern zugleich boten. Was sollte ein Herrscher damaliger
Zeiten mit seinem Vermögen auch anstellen? Er investierte nicht,
ging kein anderes als ein Kriegsrisiko ein, war an geistigen wie
technischen Innovationen nicht interessiert. Sein Interesse galt dem
Machterhalt und allem, was seiner Herrschaft über die
bestehenden Ressourcen nutzte, sie sicherte.
Despotenherrschaft und Tyranneien waren und sind, wo sie heute noch in leicht veränderter, aber strukturell ähnlicher Form auftauchen, Raub- und Mordgesellschaften. Geraubt werden Ressourcen und Arbeitskraft, gemordet der Widerstand. Ihre Eigenschaften sind eine Führungsschicht, die sich in einem hermetisch abgeschlossenen Machtbereich verschanzt, ein Volk aus Armut und Elend und eine Partizipationsklasse an der Macht, die Klasse, Schicht, Gruppe oder Familien der Herrschenden und administrativen Vasallen, die den geistigen und ökonomischen Stillstand verwalten und ausbeuten. Und wer als Teil des Prinzips Herrschaft partizipieren will, muss sich vollständig der Macht unterwerfen.
Der monetäre Warentausch war daran gemessen ein Fortschritt in die Trennung und Ökonomisierung von Macht und Herrschaft. Aus dem lydischen Protogeld – man könnte leicht noch weiter zurückgehen in die Zeit der minoischen Siegel – wurde vor allem im Verein mit dem Seehandel die Grundlage gelegt für eine griechische, später römische Organisation von Gesellschaften, die die Axt an der Einheit von Gewalt und Herrschaft legte. Kein Zufall, dass im antiken Athen die Polis auf der Basis des Demos15 erdacht wurde.
Nicht die Macht, sondern die Strukturen der Herrschaft als jene, die die Macht in den Räten16 bzw. Bulen vertraten und deren Willen durchsetzten, wurden also demokratisiert. Gleichwohl es wenig gesicherte Erkenntnis aus dieser Zeit gibt, ist es wahrscheinlich, dass es bereits damals zu einer strukturellen, d.h. von Institutionen und Organisationen, Gesetzen und Erlassen getragenen Verbindung zwischen Staat, Politik und Herrschaft kam, die sich zunächst daraus entwickelte, dass diese Bürgerlisten der Demen das Gerüst bildeten für die Verteilung des Steueraufkommens, für die Aushebung der Demoten im Kriegsfall sowie die Beteiligung und Festlegung von Beiträgen zu Staatsfesten und anderen gesellschaftlichen Angelegenheiten.
Die damaligen Herrscher nahmen sich mit Gewalt, was sie wollten. Aber ihre Macht sicherten Herrschaftsstrukturen, die sich immer feiner differenzierten, je mehr sich die Gesellschaft bzw. Gemeinschaft oder Stadtstaaten differenzierten. Handel und ein immer größer werdender Bereich der Gesellschaft brauchte Geld. Die Beamten und Vasallen, die Entstehung und Ausbreitung von Berufen, die nicht zu den wirtschaftlichen Tätigkeiten zählten, wie etwa Ärzt, Gelehrte, Künstler, Literaten etc.
Simmel17 brachte die Entwicklung der Gesellschaft und die Bedürfnisse der Menschen in der Zusammenschau als eine Form der Geldwirtschaft zusammen. Bedürfnisse, die über die Subsistenzwirtschaft des Oikos hinausgehen und die Ausdehnung des monetären Handels erforderten natürlich eine bessere und vor allem systematische Ausbildung. Denn ohne eine Steuerung, d.h. ständige Anpassung des antiken ‚Humankapitals‘ wäre die Aufrechterhaltung eines dynamischen Staatswesens damals schon nicht möglich gewesen. Zu einem standardisierten und verbindlichen Rechtssystem, einer gut ausgebildeten, loyalen Verwaltung, brauchte es also Vernunft und Logik, Pragmatismus, Dienstleistung, Wissenschaften und Erbauung.
Auch
die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem sich entwickelnden
Staatswesen war notwendig. Jene, die sich damit beschäftigen
konnten, waren doppelt verdächtig und verfangen. Der
Wissensarbeit, wir hatten das unter Allmende bereits ausgeführt,
eigen ist der Zweifel an den Sachen, wie sie sind. Um sie
weiterzuentwickeln braucht es neben dem Zweifel sehr viel Kenntnis,
quasi Insider-Wissen. Bezahlt wurden die Intellektuellen vom Staat,
da ihre Tätigkeiten nicht direkt mit den damaligen
Produktivkräften verbunden waren, diese aber maßgeblich
beeinflussten.
Eine Entwicklung des Staatswesens war also fortan
eben so wenig möglich, wie die Entwicklung des Handels und der
Geldwirtschaft, der Technik wie der Infrastruktur, des Bauwesens.
Die Polis wurde zu einer Verzahnung von Herrschaftsstrukturen, Geldwirtschaft und Macht, wobei die Herrschaftsstrukturen Demen, Beamte und Wissensarbeiter sowie eine lose, lange Reihe subalterner Günstlinge und Kriminelle umfasste.
Aus
der Einheit von Macht (Politik), Herrschaft und Geldwirtschaft
entwickelte sich in der Zeit Kaiser Augustus in Rom aus einst
ehrenamtlichen Demen die Bürokratie. Diese hatte, neben anderen
Aufgaben, vor allem die Versorgung des Staates mit Geld in Form
geprägter Münzen, die Verwaltung und Versorgung
‚verrenteter‘, ehemaliger Soldaten und die Unterhaltung
des Volkes mit jeder Form von Zirkus.
Brot und Spiele, Verwaltung
und Sozialstaat kosteten eine Menge Geld. Der außerökonomische
Input zur Staatswirtschaft überstieg bei weitem den
makroökonomischen Output, sogar die Räuberei in fremden
Städten und Staaten mit eingerechnet. Ende des 5. Jhd. waren
Roms Finanzen an der Inflation erstickt.
Macht Geld erfinderisch?
Schon in einer ersten, essayistischen Zusammenschau wird deutlich, welche außerökonomischen Faktoren direkten Einfluss nehmen auf die Geldwirtschaft und die Ökonomie in der Antike nahmen. Wesentlich dabei ist, dass diese Faktoren als konstitutive Faktoren historisch in ganz bestimmten gesellschaftlichen Formationen entstanden und sich entwickelten, aber in keiner identifizierbaren ‚endogenen‘ Eigenentwicklung, also einer ökonomischen Entwicklung aus der Ökonomie selbst heraus.
Die Geschichte der Ökonomie ist also eine Geschichte der ökonomischen und außerökonomischen Produktivkräfte. Außerökonomische Produktivkräfte stehen dabei in einem komplementären Verhältnis zu ökonomischen, bedingen diese, verändern sie, bringen ökonomische Strukturen in Krisen. Eine dieser komplementären Kräfte, die ganz entscheidend die Geldwirtschaft bedingt und dynamisiert hat, ist der Wechsel. Und der Wechsel ist ohne die Entwicklung eines zunehmend selbst bestimmten Bürgertum, speziell die großen Handelsunternehmer wie sie sich von Italien und den Hansestädten aus im 12. und 13. Jahrhundert entwickelten denkbar.
Die frühen Formen der bürgerlichen Selbstbestimmung gelangen also über Handelshäuser, die die Geldwirtschaft zu nutzen und einzusetzen wussten. Und die sie im praktischen Umgang weiterentwickelten. So waren die ersten Wechsel bereits eine Vorform von Warentermingeschäften, in denen sich zwei Handelspartner verpflichteten, einen bestimmte Summe, zu einer gegebenen Zeit an einem terminierten Ort einer bestimmten Person zu zahlen und dafür im Gegenzug Waren zu erhalten.
Wechsel wurden erfunden, um für Handelsgeschäfte ein praktikables Zahlungs- und Kreditmittel zu haben mit dem Vorteil, dass der Wechsel auch noch übertragbar war. Auf See lauerten den Händler Piraten, an Land Schurken und auf den Märkten, besonders den Kreditmärkten Halsabschneider auf. Mit dem bargeldlosen Wechsel, den ein Händler nach einem großen Tuchgeschäft in Norditalien erhielt, ließ es sich wesentlich angenehmer wieder zurück über die Alpen nach Ulm reisen, als mit einem Sack voll Gold unter dem Wanst.
Räuberbanden
gingen leer aus und die sich um die großen Handelsmärkte
ausbreitenden Geldwechsler, also jene, die Gold in Geld tauschten,
konnten ihre teils unverschämten Umtauschkurse nicht mehr
durchsetzen. Gegen beide, Räuber und Wucherer behauptete die
Erfindung des Wechsels sich als äußerst vorteilhaft, nicht
nur für Leib und Leben, sondern für das Handelssystem
insgesamt.
„Der
Kaufmann befasste sich fortan vornehmlich mit den rechtlichen und
finanziellen Aspekten des internationalen Handels: Dem Wechsel des
Eigentümers der Güter und des Geldes, das dafür in
Empfang genommen wurde, und der finanzmathematischen Aufgabe, die in
einer bestimmten Währung erhaltenen Einnahmen mit den Ausgaben
in einer anderen Währung auszugleichen. Die lästige Arbeit,
die Waren von einem Ort zum anderen zu schaffen, wurde an eine
unbedeutendere Gruppe von Unternehmern ausgelagert.“18
Mit der Erfindung eines Systems von Guthaben und Schulden waren die Wertbestände also besser geschützt, die Geldwirtschaft wesentlich flexibler, also anpassungsfähiger an die jeweilige Situation im Handelsverkehr, die Situation des Händlers als Unternehmer hatte sich verbessert, da nun nicht mehr er selbst sich Gefahren und Zeitverlust durch lange Handelsreisen zu immer weiter entfernten Märkten aussetzen musste. Und durch die Arbeitsteilung zwischen Transport der Waren und Konversion in Bilanzvermögen konnten Transportlogistik effizienter und durch den Wettbewerb der Transporteure auch preiswerter erbracht werden.
Gold wurde damals schon nicht mehr als Wertäquivalent in den Handelshäusern hinterlegt; das war überflüssig geworden. Eine andere, außerökonomische ‚Währung‘ wurde wichtiger, dominant: Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Im Sinne von einer sozialen Technik, man könnte auch von einer Form von Institutionalisierung sprechen, waren Vertrauen und Glaubwürdigkeit im Mittelalter noch nicht grundsätzlich individualisiert, also Privatpersonen und Unternehmen nicht zugeschrieben. So musste der Geldwirtschaft eine institutionelle Grundlage für Vertrauen und Glaubwürdigkeit geschaffen werden, die man im Bankenwesen erfand.
Hanse und Fugger wuchsen einander zu. Die Augsburger Bankiers finanzierten die Entwicklung der Hanse wie den Warenverkehr im engeren Sinne. Und sie standen nicht als Person oder Unternehmer selbst im Kontext der Handelsgeschäfte der Hanse, sondern scheinbar unverbunden damit als deren Finanziers auf einer eigenen Geschäftsebene; sie waren gewissermaßen Geldmittler und Clearing House in einem.
Eine direkte Verbindung von Bankiers und kaiserlicher Macht, die gerne und allerorts heute behauptet wird, gab es damals nicht. Der Übergang in die Neuzeit war noch nicht vollzogen, dazu bedurfte es noch Jahrhunderte. Die Blüte der Hanse und von Venedig, die durch Handel und Geldwirtschaft, neben dem Handwerk, Wissensarbeit, Verwaltung und Kultur ihre produktivsten Kräfte entfalten konnten, wären ohne Bankiers also nicht möglich gewesen – der sog. militärische Komplex wird hier vorübergehend vernachlässigt.
Die Geldwirtschaft der damaligen Zeit berechtigt nicht, von einer frühkapialistischen Form zu sprechen. Das verwechselt Vermögen mit Kapital als im wirtschaftlichen Prozess wirkende Produktivkraft und übersieht, dass erst mit der Liquidierung von Vermögen diese Kapitalform historisch möglich wurde. Wir sind also noch weit entfernt von den Anfängen kapitalistischer Geldwirtschaft, gleichwohl wir bereits Gläubiger-Schuldner-Kontrakte in Form von Wechseln erkennen.
Glaubwürdigkeit und Vertrauen erfordern eine, von Personen und Unternehmen unterschiedene Form. Eine Form, die als eigenständige, wirtschaftliche Praxis realisiert wird. Banken haben zu Fuggers Zeiten diese auf Glaubwürdigkeit basierende Wirtschaftsform erstmals erfunden, als Geschäftsmodell. Nur ein Geschäftsmodell, welches Glaubwürdigkeit zu einem transpersonalen Prinzip erhebt und selbst nicht als ein Unternehmen direkt an den Handelsprozessen beteiligt ist, kann Glaubwürdigkeit in seinen Interessen garantieren. Also ist Glaubwürdigkeit als Geschäftsmodell, nach dem sich alle Handlungen der am Geschäftsmodell und seiner Umsetzung Beteiligten richten müssen, für einzelne Händler, Handelsunternehmer und direkt wie indirekt daran Beteiligter garantiert.
Es wäre zu einfach, jetzt davon zu sprechen, dass die Fugger durch den Verzicht auf direkte Beteiligung am Handel quasi als eine Art Entschädigung die Geldgeschäfte übernehmen durften; diese Art der Beschreibung erklärt wenig und ist obendrein Unfug. Als Bankiers verdienten die Fugger an jedem Handelsgeschäft und ebenso evident war ihr Vorteil, dass sie natürlich auch an allen Geldgeschäften außerhalb der Handelsgeschäfte, die die vermögenden Händler und eine zunehmende Zahl an gut situierten bis vermögenden Bürgern vor allem in den aufstrebenden Städten und Handelszentren tätigten. Ein Vielfaches an Geschäftstätigkeiten war also mit diesem Geschäftsmodell verbunden, war es glaubwürdig, also im Dienste der Sache selbst und im umgekehrten Fall sogar (selbst-) schädlich für eine Bank.
Mit jedem Geschäftsvorfall, den die Fugger als Bankiers tätigten, bewies sich ihr Geschäftsmodell nicht nur als glaubwürdig, sondern ihre Entscheidungen auch für den einzelnen Geschäftspartner bzw. einzelnen Bankkunden als nachvollziehbar und somit vertrauenswürdig. Die Bank stand nicht gegen die Bedürfnisse ihrer Kunden, sondern als Vermittler zwischen den Geschäften, die Kunden mit Kunden und Kunden mit sich selbst, also als Privatkunden tätigten. Von einer Allianz der damaligen Banken und dem Staat konnte keine Rede sein, sah das Geschäftsmodell diese Form der ‚Beteiligung‘ ja auch gar nicht vor. Aktien bzw. Anleihen auf die Betriebsvermögen der Fugger und andere Banker waren noch lange nicht emittiert, Börsenplätze unbekannt.
Anmerkungen:
1
Das hinter dem Geldwert verborgene gesellschaftliche Verhältnis
erscheine "unter dinglicher Hülle versteckt". Marx
vergleicht den Vorgang der Fetischisierung mit der Religion:
"Um
daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion
der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte
des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und
mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige
Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand.
Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt,
sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der
Warenproduktion unzertrennlich ist."
Marx: Das Kapital, Erster Band, Zweite Auflage, MEW
23,86.
Geldfetisch und Kapitalfetisch stellen im Werk von Karl
Marx logische Weiterentwicklungen des Warenfetischs dar.
"Eine
Ware scheint nicht erst Geld zu werden, weil die anderen Waren
allseitig ihre Werte in ihr darstellen, sondern sie scheinen
umgekehrt allgemein ihre Werte in ihr darzustellen, weil sie Geld
ist."
Im
Geld fänden die übrigen Waren "ihre eigne Wertgestalt
fertig vor als einen außer und neben ihnen existierenden
Warenkörper." Marx, Das Kapital Bd. 1, MEW 23: 107
2 Vgl. Marx, Grundrisse, 584-590; MEW 23, 446; MEGA II, 3.6, 2058 f.
3
Der relative Mehrwert bezeichnet bei Marx die Erhöhung seiner
Produktion durch die Verkürzung der notwendigen
Arbeitszeit.
Der absolute Mehrwert - die Erhöhung der
Mehrwertproduktion durch die Verlängerung des Arbeitstages.
4
Nach Gabler stellt die Phase der Diffusion die Phase 3 des
Technischen Fortschritts dar.
(1) Phase der Invention
(Erfindung): Erarbeitung naturwissenschaftlich-technischen Wissens,
von Forschungs- und Entwicklungsergebnissen und Erfindungen.
(2)
Phase der Innovation: Die erstmalige kommerzielle Anwendung führt
zur Erweiterung des technischen Könnens und zur Entstehung von
Produkt-, Material- und/oder Verfahrensinnovationen;
Hauptaktivitäten sind u.a. Konstruieren, Experimentieren mit
Prototypen, montagegerechte Anwendung und Verwertung in der
Produktion und erste Marketingbestrebungen.
(3) Phase der
Diffusion: Die Innovationen werden mittels Marketingaktivitäten
und Technologietransfer in Form von Materialien, Produkten,
Verfahren (Investitionsgütern), Patenten und Lizenzen
wirtschaftlich verwertet; ihre Anwendung breitet sich dadurch aus
(diffundiert).
5 MEW 4, 465
6 MEW 23, 511
7 Jean-Baptiste Say (* 5. Januar 1767 in Lyon; † 15. November 1832 in Paris)
8 Erich Preiser (* 29. August 1900 in Gera; † 16. August 1967 in München)
9
Das Gabler Wirtschaftslexikon demonstriert die grundsätzliche
Verwirrung zu diesem Thema wie folgt:
Vollkommene
Substituierbarkeit ist im Fall b nicht möglich, weil hier immer
alle Faktoren, wenn auch in unterschiedlicher Zusammensetzung,
benötigt werden (z.B.
Wicksell-Cobb-Douglas-Produktionsfunktion, in der die Faktoren
multiplikativ miteinander verknüpft werden, oder ihre
Verallgemeinerung in Form der CES-Funktion, die durch eine konstante
Substitutionselastizität der Produktionsfaktoren gekennzeichnet
ist). Es liegt somit eine gewisse Komplementarität der Faktoren
vor. Im Fall c gibt es aus technischen Gründen keine
Substitution der Produktionsfaktoren (Fall der strikten
Komplementarität). Dies bedeutet, dass der jeweils knappere
Faktor die Produktion begrenzt. Daher spricht man auch von
limitationalen Produktionsfaktoren. Es liegt dann eine
Leontief-Produktionsfunktion mit rechtwinklig verlaufenden
Isoquanten vor (Substitutionselastizität).
10 Nach dem sog. Romer-Modell (1990). Anders als in der neoklassischen Wachstumstheorie, welche fortwährendes Wachstum des Outputs pro Kopf nur durch exogenen technischen Fortschritt generieren kann, wird dieser hier erstmals endogenisiert. Technischer Fortschritt ist das Ergebnis von gewinnorientierten Investitionen in Forschung und Entwicklung (F&E), mit dem Ziel die Variitäten von Inputs (Maschinen) zu vergrößern. Mit zunehmender "Ausdifferenzierung" des Maschinenbestandes steigt die Arbeitsteilung und damit die Produktivität der Arbeit. Da die Herstellung eines bestimmten Typs einer Maschine zunächst deren Entwicklung voraussetzt, fallen Fixkosten an, die bei vollständiger Konkurrenz nicht gedeckt werden könnten. Infolgedessen muss die Annahme der vollständigen Konkurrenz bei den Maschinenproduzenten (Zwischenproduktsektor) aufgegeben werden.(Gabler)
11
Vgl. Nicholas Kaldor:
(1) Der Pro-Kopf Output wächst über
die Zeit.
(2) Die Kapitalausstattung pro Kopf (Kapitalintensität)
wächst über die Zeit.
(3) Die Verzinsung des
Kapitalstocks ist nahezu konstant.
(4) Das Verhältnis von
physischem Kapital zu aggregiertem Output ist konstant. Damit
wachsen beide Aggregate mit gleicher und konstanter Rate.
(5) Die
Einkommensverteilung zwischen Arbeit und Kapital ist nahezu
konstant, d.h. die Lohnquote und die Profitquote sind nahezu
konstant.
12 Es gilt als stilisiertes Faktum, dass in jedem Land auf der Erde der wirtschaftliche Entwicklungsprozess durch eine demografische Transition begleitet wird und wurde. Eine demografische Transition besteht aus einem Anstieg der Fertilitätsraten (begleitet durch sinkende Mortalitätsraten bei Kindern), gefolgt von sinkenden Fertilitätsraten und steigender Lebenserwartung in der letzten Phase. Der Anstieg der Fertilitätsraten wird durch einen Produktivitätsanstieg infolge der industriellen Revolution erklärt. Das Sinken der Fertilitätsraten durch steigende Humankapitalinvestitionen von Eltern in ihre Kinder, weil die Beschleunigung des technischen Fortschritts auch zu komplexeren Technologien und Arbeitsabläufen führt(e). In dieser Phase wird also sinkendes Bevölkerungswachstum mit steigenden Humankapitalinvestitionen verknüpft, welches wiederum den Weg für steigendes Pro-Kopf-Einkommen ebnete. Dieser Prozess ist demnach für die Divergenz der Pro-Kopf-Einkommen in der Welt verantwortlich. Internationale Einkommensunterschiede liegen in unterschiedlichen Zeitpunkten des Einsetzens wirtschaftlicher Entwicklung und demografischer Transition begründet. (Gabler)
13 Jack Weatherford (1999): Eine kurze Geschichte des Geldes und der Währungen: von den Anfängen bis in die Gegenwart. Conzett-Verlag bei Oesch, 1999, ISBN: 3905267039, 9783905267037
14 Skythische Stämme, welche am südlichen Ufer des Schwarzen Meeres lebten und Kontakt mit den griechischen Schwarzmeerkolonien hatten, übernahmen von diesen das Konzept des Geldes. Während die Griechen dieses in Münzform prägten, gossen die Skythen ihres in Delphinform oder in die weit selteneren Pfeilformen. Eine weitere bekannte und ebenfalls seltene Form stellte das Rad dar. Diese Währung war für ca. 2 Jahrhunderte im Umlauf, bevor sie vollständig von den geprägten Münzen verdrängt wurde, sie wurde nach ihrem Metallgewicht gehandelt, ähnlich zu den AES Crudae der römischen Republik.
15 Demos (griechisch δῆμος dēmos „Staatsvolk“, im Gegensatz zu ἔθνος éthnos „Volk“) ist ursprünglich als Dorfgemeinde die kleinste Verwaltungseinheit innerhalb einer antiken griechischen Polis (Pl. Poleis), insbesondere des ionisch-attischen Siedlungsgebiets, aber auch in einigen dorischen Poleis. Der Begriff geht auf das Zusammensiedeln einzelner Sippen zurück und bezeichnet eine Gemeinde, gemeinhin auch das Volk. In der Regel wurde damit ferner die Gesamtzahl der Vollbürger einer Polis (also die Bürger im Besitz der vollen Bürgerrechte) bezeichnet, die – beispielsweise in der attischen Demokratie – an der Volksversammlung teilnehmen konnten. (Wikipedia)
16 Für den Rat der Fünfhundert in Athen, die Bule, entsandte jeder Demos eine festgelegte und von seiner Größe abhängige Anzahl von Vertretern, die durch Los aus den Mitgliedern eines Demos bestimmt wurde.
17 Georg Simmel (1990). Philosophie des Geldes. Duncker & Humblot, Leipzig.
18 Der britische Ökonom und Altphilologe Felix Martin (2014) spricht in diesem Zusammenhang von einer "Sozialen Technologie", die weit über eine reine ökonomische Betrachtungsweise hinausgeht.
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